„Ihr verlasst Gottes Gebot und haltet der Menschen Satzungen“

„Er aber sprach zu ihnen: Wie fein hat von euch Heuchlern Jesaja geweissagt, wie geschrieben steht: »Dies Volk ehrt mich mit den Lippen; aber ihr Herz ist fern von mir. 7 Vergeblich dienen sie mir, weil sie lehren solche Lehren, die nichts sind als Menschengebote.« 8 Ihr verlaßt Gottes Gebot und haltet der Menschen Satzungen.“ (Mk 7,6-8)

Hans Bayer schreibt in seinem Kommentar zu diesen höchst herausfordernden Versen:

„Jesus entlarvt das Grundproblem seiner Gegner: Das Befolgen mündlich tradierter Satzungen führt nicht zu wachsender, innerer Reinheit, sondern lenkt ab von der Problematik bestehender, autonomer, menschlicher Existenz vor Gott. Jesus entlarvt die fundamentale Unreinheit vor Gott, nämlich das von Gott entfernte und damit autonome Herz des Menschen, was sich im Missachten voin Gottes Wort äußert.

Wer sich über dieses Grundproblem mittels Kompensation durch Äußerlichkeiten hinwegsetzt, ist ein Heuchler vor Gott. Gibt er doch vor, mittels einer derartigen Kompensation vor Gott, trotz bestehender Entfremdung, rein sein zu können. Entgegen der zutreffenden, aber sehr einseitigen Meinung, dass viele Pharisäer nur deshalb Heuchler sind, weil sie nicht tun, was sie von anderen fordern, wird hier deutlich, dass Jesu Anklage, Heuchler zu sein, viel tiefer ansetzt. Diese Heuchelei ist keineswegs Spezifikum pharisäischer Frömmigkeit, sondern scheint vielmehr ein Charakteristikum menschlicher Existenz zu sein. Als Verdeutlichung bezieht Jesus Jes 29,13 auf seine Gegner: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, jedes ihrer Herzen ist jedoch weit von mir entfernt. Umsonst beten sie mich an, wobei von Menschen gemachte Gebote als Lehre verbreiten“ (V. 6-7). Jesus betont dabei die scharfe Antithese zwischen Gebot Gottes und Gottergebenheit einerseits sowie von Menschen gemachte Gebote und Autonomie andererseits. Der krasse Gegensatz zwischen den beiden Begriffspaaren ist bedeutsam. Er stellt eine unüberbrückbare Alternative dar: entweder folgt der Mensch (durch Gottes Kraft) von Herzen dem Gebot Gottes, oder er befolgt die Forderungen menschlicher Überlieferungen.“

Hans F. Bayer, Das Evangelium des Markus, Historisch-Theologische Auslegung, Witten: R. Brockhaus, 2008, S. 272f.

Jesus wandelt auf dem Wasser

„Und er sah, daß sie sich abplagten beim Rudern, denn der Wind stand ihnen entgegen. Um die vierte Nachtwache kam er zu ihnen und ging auf dem See und wollte an ihnen vorübergehen.“ (Mk 6,48)

Hans Bayer schreibt in seinem Kommentar zu diesem Vers:

„Warum vermittelt Jesus den Anschein, an ihnen vorbeigehen zu wollen, wenn er doch (schon seit geraumer Zeit?) ihre Not sieht? Nach V. 48a beabsichtigt Jesus zumindest, seinen Jüngern in ihrer Not entgegenzugehen. Die Formulierung „er will an ihnen vorbeigehen“ kann wohl nicht im Sinn von Lk 24,28 („er tat, als ob er weitergehen wollte“) verstanden werden. Vielmehr ist sie im Sinne einer alttestamentlichen Theophanie zu fassen (Ex 33,19 oder Ex 33,22): er erweckte den Anschein, an ihnen vorbeizugehen. Die markinische Formulierung besagt, dass Jesus seinen Jüngern so „erscheint“, wie Gott dem Mose. Dies wird durch die göttliche Beschwichtigungsaussage in V. 50 (nur Mut, ich bin es; hört auf, euch zu fürchten) bestärkt. Unabhängig davon, ob „ego eimi“ hierbei als christologische Hoheitsaussage (vgl. Ex 3,14) zu verstehen ist oder nicht, vermittel das Verhalten und Rede Jesu eindeutig göttlichen Hoheitsanspruch (vgl. Hiob 9,8).“

Hans F. Bayer, Das Evangelium des Markus, Historisch-Theologische Auslegung, Witten: R. Brockhaus, 2008, S. 264.

Warum Jesus in Nazareth keine Wunder tat

„Und er konnte dort nicht eine einzige Tat tun, außer daß er wenigen Kranken die Hände auflegte und sie heilte.“ (Mk 6,5)

Hans Bayer schreibt in seinem Kommentar zu diesem Vers:

„Jesus wird durch diese ablehnende und verwerfende Haltung „gehindert“, Notleidende zu heilen. Bedarf es des Glaubens (als Bereitschaft Jesu gegenüber) als Anstoß und Grund, um geheilt zu werden? Oder widerspricht es vielmehr dem Charakter und Willen Jesu, dort zu heilen, wo prinzipielle Ablehnung (als Reaktion auf ihn) trotz der Kenntnis seiner Vollmacht herrscht? Mit anderen Worten: Liegt das Ausbleiben der Heilungen primär im (resistenten) Willen der Menschen oder vor allem in der souveränen Grundhaltung Jesu, nur dort zu heilen, wo glaubende Offenheit ihm gegenüber besteht? Beides hängt zusammen; Letzteres ist jedoch ausschlaggebend. Das heißt, Jesus vermochte dort keinerlei Wundertaten zu verrichten, weil er nur dort heilen will, wo ihm zumindestens Offenheit (als Reaktion) entgegengebracht wird, wo der einzelne Mensch zumindest damit rechnet, von Jesus geheilt werden zu können. Jesus setzt sich somit willentlich keineswegs über die abweisende Haltung der Menschen, etwa durch „kalte“ (sprich: magische) Wundertaten hinweg.“

Hans F. Bayer, Das Evangelium des Markus, Historisch-Theologische Auslegung, Witten: R. Brockhaus, 2008, S. 238f.